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UX, das sind doch die mit den farbigen Post-It?

Heutzutage garantieren umfangreiche Funktionalitäten nicht mehr zwingend den Erfolg eines digitalen Produkts. Gleichbedeutend, wenn nicht sogar wichtiger, ist die Gebrauchstauglichkeit (Usability) und ein positives Benutzererlebnis (User Experience). Es gibt diverse Methoden, wie Usability Probleme schon vor der Entwicklung erkannt und verbessert werden können.

Qualität gehört nicht nur zu den helvetischen Tugenden, sondern ist ein grundlegender Aspekt der meisten Projekte. Nebst der «technischen» Qualität gibt es weitere Dimensionen, wie zum Beispiel die menschenzentrierte Qualität. Diese ist in der DIN EN ISO 9241-220 Norm definiert und lautet wie folgt:

Das Ausmass, in dem ein interaktives System Anforderungen bezüglich

■ Gebrauchstauglichkeit (Usability),

■ Benutzererlebnis (User Experience),

■ Barrierefreiheit (Accessibility) und

■ Vermeidung von Schäden durch die  Benutzung (Avoidance of harm from use) erfüllt.

 

Zielerreichung ohne negative Einflüsse

Die Usability beschreibt, wie effektiv, effizient und zufriedenstellend ein Benutzer seine Ziele erreichen kann. Effektivität bezieht sich dabei auf die Genauig- und Vollständigkeit, während sich die Effizienz nach den verwendeten Ressourcen orientiert. Die Zufriedenstellung betrachtet zusätzlich, ob der Benutzer das angestrebte Ziel ohne negative Einflüsse erreichen konnte. Usability betrachtet also die objektive und subjektive Wahrnehmung des Benutzers während der Nutzung.

Der Mensch entwickelt aufgrund von Erfahrungen rasch eine Vorstellung, wie ein neues Produkt genutzt werden könnte. Dies nennt man «antizipierte Benutzung» und diese Wahrnehmung kann bereits über den Erfolg oder Misserfolg eines Produktes entscheiden. Übersteigt die tatsächliche Nutzung die Erwartungen aus der antizipierten Benutzung, löst dies eine hohe Zufriedenheit aus und man spricht von einer positiven User Experience (UX). Die User Experience berücksichtig also die subjektive Sicht des Benutzers auf das interaktive System inklusive dessen, was vor und nach der Nutzung erlebt wird.

 

Nicht kostenlos aber kostensparend

Barrierefreiheit bedeutet, dass auch Menschen mit Beeinträchtigungen das System ohne zusätzliche Hilfe nutzen können. Es ist selbsterklärend, dass darauf geachtet werden muss, dass der Benutzer bei der Nutzung keiner Gefahr ausgesetzt wird.

UX Design ist vor der Entwicklung sehr wichtig, denn dies führt zu zufriedenen Benutzern, sinkenden Schulungskosten und somit steigenden Umsätzen. Kostenlos ist UX Design zwar nicht, aber dank der visuellen Prototypen erhält man bereits im Designprozess wertvolle Rückmeldungen der Benutzer und es können viel teure Fehlentwicklungen vermieden werden.

 

Menschzentrierter Gestaltungsprozess

Wie der Name schon sagt, steht der Mensch und nicht das interaktive System im Zentrum. Es ist also essentiell, dass die Benutzer während des gesamten Prozesses mit einbezogen werden und man sich nicht nur auf Aussagen von Projektleiter/Management verlässt! Mittels BAUR Modell (Benutzer, Aufgaben, Umgebung und Ressourcen) wird ein umfassendes Verständnis des sogenannten «Nutzungskontextes» geschaffen. Die primären Benutzer lassen sich erfahrungsgemäss leicht finden, denn für diese Personengruppe wird das System entwickelt. Nicht zu vergessen sind die sekundären Benutzer, welche beispielsweise Supportaufgaben ausführen und die indirekten Benutzer, die lediglich Ergebnisse wie Reports oder Exporte verwenden.

 

Den Puls am Ort des Geschehens fühlen

Interviews sind eine bewährte Methode, um an das explizite und implizite Wissen der Benutzer heranzukommen. Findet dieses am Arbeitsplatz des Benutzers statt, spricht man von einem kontextuellen Interview. So erlebt man zusätzlich die physische und soziale Umgebung und gewinnt nebst dem Gesprochenen einen Einblick in die Arbeitsabläufe. Eine ähnliche Variante, um objektive Informationen zu erhalten, sind Beobachtungen. Der Unterschied ist, dass der Beobachter keine Fragen stellt, sondern im Hintergrund das Geschehen mitverfolgt. Oft werden die Ziele, respektive Aufgaben, die die Benutzer erreichen sollen, in Workshops mit Fokusgruppen ermittelt. Bei sehr vielen Benutzern eigen sich Umfragen, deren Antworten entsprechend gewichtet und ausgewertet werden. Einige Benutzer erklären sich bereit, ein Tagebuch zu führen und alle Handlungen aufzuschreiben. Je nach Situation muss entschieden werden, welche Methode(n) überhaupt möglich sind und welche zum Einsatz kommen.

Die Ergebnisse der einzelnen Methoden werden in der Nutzungskontextbeschreibung dokumentiert. Je nach Bedarf und Ressourcenverfügbarkeit können einzelne UX-Ergebnisse weggelassen werden. Nebst den Ist-Szenarien dienen als Grundlage für die Erstellung von Gestaltungslösungen die Benutzergruppenprofile, die mehrere Personen gemeinsam charakterisieren. Weiter helfen Aufgabenmodelle die notwendigen Teilschritte strukturiert zu beschreiben. Für die Kommunikation mit den Projektbeteiligten können Personas (konstruierte, aber realistische Benutzer) und User Journey Maps erstellt werden. Letztgenannte ist eine grafische oder tabellarische Beschreibung einer Aufgabe, die alle Berührungspunkte, Erwartungen und Hindernisse aufzeigt.

 

Bunt tapezierte Wände  als Entscheidungsgrundlage

Ist das Verständnis für den Nutzungskontext vorhanden, werden sehr allgemein formulierte Bedürfnisse (User Needs) auf Post-Its notiert. Die Klebezettel lassen sich in der Diskussion rasch ordnen und priorisieren. Bunt tapezierte Wände wiederspiegeln also eine kompakte Zusammenfassung von viel Vorarbeit und sind die Basis für ein benutzerfreundliches Produkt! Aus den Bedürfnissen lassen sich die wichtigsten Eigenschaften und Kernfunktionen (Features) des neuen Systems ableiten. Die Features müssen nun in einzelne Anforderungen, die den Funktionsumfang und die Akzeptanzkriterien definieren, verfeinert werden. Es gibt verschiedenen Methoden, wie die Nutzungsanforderungen dokumentiert und in eine Gesamtlösung überführt werden können. Ein Nutzungsszenario ist eine erzählende, textuelle Beschreibung einer Situation. Als Storyboard bezeichnet man mehrere Bilder, die die Erledigung einer Aufgabe visuell darstellt. Wireframes sind handskizzenartige Visualisierungen einer grafischen Benutzeroberfläche und Prototypen klickbare und funktionsfähige Modelle des Endprodukts.

Die Vorteile von Visualisierungen (z.B. Wireframes) sind, dass sie sehr schnell erstellt und bereits für erste Usability-Evaluierungen mit den Benutzern genutzt werden können. Auch wenn die grafischen Darstellungen sehr rudimentär sind, bekommen die Benutzer früh einen Gestaltungs- und Funktionseindruck, was eine konstruktive Diskussion fördert. Die Wireframes werden aufgrund der Rückmeldungen fortlaufend überarbeitet und verfeinert.

Beim Entwickeln von gebrauchstauglichen Lösungen geht es primär um die Erfüllung der Nutzungsanforderungen, jedoch unter Berücksichtigung von Dialogprinzipien, Heuristiken und Gestaltungsregeln. Erstgenannte sind über Technologien hinweg allgemein gültig und Gestaltungsregeln sind sehr plattformspezifisch. Heuristiken befinden sich dazwischen und können als grobe Daumenregeln verstanden werden.

 

UX Design im Home Office?

Als Ende Februar ein UX Projekt mit einem Neukunden startete, hätte niemand für möglich gehalten, dass in Kürze und quasi über Nacht jegliche physische Zusammenarbeit nicht mehr möglich sein würde. Ein Glücksfall war, dass das erste Kickoff- oder KennenlernMeeting im gleichen Raum abgehalten werden durfte. Und dann kam Corona... Die obige Beschreibung des menschenzentrierten Gestaltungsprozesses lässt vermuten, dass viele Workshops und Besprechungen notwendig und gerade in Zeiten von Quarantänen und Home Office nicht möglich sind. Ja, es braucht eine intensive Zusammenarbeit und nein, das geht auch virtuell ohne nennenswerte Probleme!

 

«Ziemlich nah ins Schwarze getroffen»

Workshops und Interviews wurden in Online Meetings verlegt und Werkzeuge wie digitales Whiteboard und padled.com kamen für die Analyse des Nutzungskontextes sowie als virtuelle Post-It Pinwand der Anforderungen zum Einsatz. Dem Kunden wurde in mehreren Iterationen klickbare Prototypen zur Verfügung gestellt, die die Benutzer selber testen konnten. Obwohl zu den Benutzern zum Teil noch nie ein persönlicher Kontakt bestanden hatte, hat sich dieses Vorgehen bewährt, oder wie der Kunde es formuliert hat: «Wir haben ziemlich nah ins Schwarze getroffen»!

Online Meetings waren keine grundlegende Neuerfahrung. Bereits früher kam diese Technologie für Besprechungen und Support zur Anwendung. Es gibt auch Vorteile, zum Beispiel dass immer nur ein Teilnehmer spricht, oder anstelle der Reisezeit produktiv gearbeitet werden kann. Am eigenen PC sind alle Unterlagen sofort griffbereit und es besteht sehr einfach die Möglichkeit, den eigenen Bildschirm mit anderen Teilnehmern zu teilen.

Natürlich hat die globale Home Office Situation auch Schwierigkeiten aufgezeigt, beispielsweise Netzüberlastungen, die zu Kommunikationsunterbrüchen führten. Eine weitere Voraussetzung für ein effizientes Online Meeting ist die Nutzung eines Headsets. Dies hat sich mit der Zeit aber von selbst geregelt...

Die Akzeptanz von Online Meetings ist in den vergangenen Monaten definitiv gestiegen. Die Frage sei an dieser Stelle erlaubt, ob in Zukunft – unter normalen Bedingungen – dieses Kommunikationsmittel weiterhin vermehrt zum Einsatz kommt?

 

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