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Als die Welt zum Stillstand kam …

… ist ein Science-Fiction-Roman der deutschen Autorin Gabi Neumayer aus dem Jahre 2014. Er handelt davon, wie sich die Menschen im Jahre 2036 in einem Mobilitätswahn in Sekundenschnelle um die Welt beamen lassen und eben dieses Netz dann zusammenbricht. Der Titel passt auch zur Situation, in welcher wir uns zur Stunde befinden.

Die aktuelle Covid-19-Pandemie lässt Menschen rund um die Welt einerseits ausserordentliche Einsätze leisten, anderseits sich besinnen, was wichtig ist. Höchste Anerkennung verdienen die Kämpfenden an vorderster Front. Nicht alle können Epidemiologe, Immunologe, Virologe, Arzt sein oder zum Pflegepersonal gehören. Alle indessen können in ihrem Bereich wertvoll zur PandemieBekämpfung beitragen. Auch die Schweizer Industrie trägt dazu bei. Aktuell seien nur zwei Beispiele genannt: Roche Diagnostics, welche derzeit einen massentauglichen SarsCoV-2-Test herausbringt und Sensirion, welche Durchflusssensoren für Beatmungsgeräte herstellt. Es ist selbstredend, dass hier nicht alle Mitarbeitenden in der Produktion ihre Arbeit einfach im Home-Office erledigen können, wie das vielerorts verlangt wird.

 

Bedürfnis nach faktengesicherter Information

Auch glaubwürdige Journalisten sind zentral, wenn es um die faktengetreue Berichterstattung geht. Längst herrscht auf dem Pressemarkt ein knallharter Verdrängungskampf mit Halbwahrheiten und Buhlen um Klicks, welche die alte Währung für Werbung, also Anzahl Abonnenten beziehungsweise Leser, ablöst. Es ist bezeichnend, dass das OnlineMagazin «Republik», das sich rein durch die Leserschaft fi nanziert, also ohne Werbekosten auskommen muss und das Wissenschaftsmagazin «higgs» durch eine CrowdfundingAktion in der Zeit der Krise gesichert wurden. Offenbar herrscht ein Bedürfnis nach faktengesicherter Information. Gleichzeitig haben traditionelle Printmedien, die oft auf Werbeeinnahmen angewiesen sind, jetzt besonders Probleme.

 

Exponentielles Wachstum

Viele Dinge werden unterschiedlich interpretiert oder antizipiert. Dieser Tage liest man des Öfteren, dass wir Menschen uns linearen Wachstum gewohnt sind, exponentiellen hingegen nicht. Gleichzeitig wird das viel zitierte Wirtschaftswachstum in Prozenten beziffert. Prozentuales Wachstum ist exponentielles Wachstum, auch wenn wir uns das allzu oft nicht bewusst sind, also sollten wir uns das eigentlich gewohnt sein. Das hat unter anderem mit der Zeitskala zu tun. Eine Verdoppelung des BIP beispielsweise dauert mehrere Jahre. Es ist auch nicht so, dass wir bei einer Vireninfektion von exponentieller Verbreitung wegkommen müssen, wie vielerorts vermeldet wird. Wir müssen nur mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, die Basisreproduktionszahl R0, welche bei Covid-19 zwischen 2 und 3 liegt, also die Anzahl Menschen, die durch einen Infi zierten angesteckt werden, auf unter 1 zu drücken. Damit erhalten wir dann eine exponentiell abklingende Kurve.

 

Die Tücken von Modellrechnungen

Wenn wir also davon ausgehen, dass zu Beginn der jeweiligen Epidemie in jedem Land die Basisreproduktionszahl 2 war, dann hat das zu einer Verdopplung der Neuinfi zierten alle zwei bis drei Tage geführt. Das ist wie die bekannte Anekdote mit dem Schachbrett und den Reiskörnern, die auf jedem Feld verdoppelt werden:

Sehr schnell wird die Zahl unglaublich hoch. Eine kurze Simulation der ersten vier Wochen des Epidemieverlaufs in der Schweiz zeigt die Übereinstimmung dieses einfachen Modells (für eine Verdoppelung alle 2,5 Tage). 

Das vereinfachte Modell ohne Berücksichtigung einer möglicherweise hohen Dunkelziffer zeigt, dass bereits am 51. Tag die ganze Landesbevölkerung infi ziert worden wäre. Hier¹ kommt das Modell natürlich an seine Grenzen. Es gilt nur solange, wie man immer wieder auf genug Nicht-Infi zierte stösst. Bessere Modelle und Simulatoren sind derzeit allerorten im Internet zu fi nden. (¹ Dieser Artikel wurde am 23. März verfasst, die letzte Änderung am 14. April vorgenommen.)

 

Exponentielles Abklingen – der lange Weg zurück

Wenn es uns gelingt, durch Hygienemassnahmen und Social Distancing die Basisreproduktionszahl unter 1, beispielsweise auf den Kehrwert von 2 zu bringen, also ½, dann wird sich die Neuinfi ziertenrate genau umgekehrt entwickeln, nämlich eine Halbierung der Neuinfi zierten alle zwei bis drei Tage. Weil die Inkubationszeit mehrere Tage bis Wochen dauert, sehen wir den Effekt der Massnahmen leider erst verzögert. Dass die Latenzzeit, also die Zeit von der Ansteckung bis zur Weitergabe, kürzer ist als die Inkubationszeit, also die Zeit bis man allfällige Symptome zeigt, macht es so schwierig, die Basisreproduktionszahl unter 1 zu drücken, weil sich Gesunde kaum freiwillig in prophylaktische Isolation begeben. Wenn die Basisreproduktionszahl aber nur knapp unter 1 ist, dauert es entsprechend lange. Werden getroffene Massnahmen wie Restaurant- und Schulschliessungen und Veranstaltungsverbot aufgehoben, droht wieder die Umkehrung der Exponentialkurve.

 

Immense wirtschaftliche Konsequenzen

Klar ist, dass die Methoden der Eindämmung wie der Lockdown immense wirtschaftliche Konsequenzen haben. Nur bleibt keine Alternative, wenn das Gesundheitswesen nicht übermässig strapaziert werden soll. In der Schweiz haben wir diesbezüglich Glück gehabt. Andere Länder werden vor grössere Probleme gestellt. Ein solides Gesundheitswesen ist eine der Errungenschaften des Schweizer Staates. Ebenso wird dieser die wirtschaftlichen Kosten dieser Massnahmen tragen müssen. Jeder und jede ist gefordert. Im Eiltempo müssen jetzt Impfungen, Medikamente, Antikörpertests und technische Hilfsmittel wie Handy-App her, damit bei Lockerung der Massnahmen nicht eine zweite Infektionswelle droht. Viele Institutionen wie die ETH beteiligen sich an Corona-bezogener Forschung. Auch Ausbildner sind gefordert. Es ist ihre Aufgabe, in diesen Zeiten keine Wissenslücken entstehen zu lassen, in keinem Bereich. Auch wir Ingenieure haben unsere Aufgaben. Neben den beispielhaft erwähnten Betrieben, deren Aktualität offensichtlich ist, werden weitere Ingenieure gebraucht, um die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, die es uns erlaubt, diese Krise zu überwinden.

 

Kein politisches Gezanke

Alle politischen Parteien müssen über ihren Schatten springen. Die Bürgerlichen müssen lernen, dass in diesen Zeiten ihr gerne zitierter Satz «it's the economy, stupid» anecken kann. Ausserdem tut sich hier einmal mehr ein Röstigraben auf. Die Linken machen gerne Datenschutzgründe geltend, um innovative Technologien zur weiteren Epidemiebekämpfung zu verhindern. Dabei hat der bisherige Seuchenverlauf in der Schweiz nicht derart schlimme Ausmasse wie in Ländern wie Italien, Spanien oder den USA. In einigen Ländern, zum Beispiel in unserem südlichen Nachbarland, muss bereits abgewogen werden, ob am Lockdown nicht mehr Menschen verhungern als an Covid-19 sterben.

 

Infoservice

Prof. Dr. Heinz Mathis

Swiss Engineering

Fachgruppe Elektronik und Informatik (FAEL)

heinz.mathis@hsr.ch; http://icom.hsr.ch