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Das Tor zur Lunge

Unbemerkte Lungenkollapse unter Vollnarkose fordern viele Menschenleben. Die Firma Swisstom hat einen elektrischen Impedanz­tomografen entwickelt, der die Lungenfunktion ohne schädliche Strahlung überwacht. Kernstück ist ein neuer Mikrochip des IMES, Institut für Mikroelektronik und Embedded Systems, der HSR Hochschule für Technik Rapperswil.

 

Ein Echtzeitblick in die Lunge ist für viele Medizinerinnen und Mediziner ein lang gehegter Wunsch. Dr. med. Stephan Böhm, einer der Mitgründer von Swisstom, kennt ihn aus eigener Erfahrung: «Als ich Patienten auf der Intensivstation künstlich beat-mete und viele davon sterben sah, wünschte ich mir, in ihren Brustkorb hineinschauen zu können, um die Behandlung zu ver- bessern.»

Bei 50 Millionen Vollnarkosen jährlich sterben weltweit 220 000 Menschen an den Folgen eines unbehandelten progressiven Lungenkollapses, der während einer künstlichen Beatmung auftreten kann. Für Beatmungsspezialisten wäre es eigentlich einfach, einen diagnostizierten Lungenkollaps zu verhindern. Ihnen fehlt jedoch ein Mittel, um die Lungenaktivität in Echtzeit während einer Operation zu messen.

Verfahren ohne Nebenwirkungen

Der Startup­Firma Swisstom aus Landquart ist es nun mit ihren Forschungspartnern gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem sich die Lungenaktivität in Echtzeit visualisieren lässt. Das IMES, Institut für Mikroelektronik und Embedded Systems der HSR, hat mit seiner Forschungsarbeit massgeblich dazu beigetragen. Einerseits hat das IMES einen speziellen Mikrochip entworfen, andererseits hat es die Algorithmen entwickelt, um aus den Rohdaten den Gesundheitszustand der Lunge abzuleiten und diesen zu visualisieren. Das Prinzip basiert auf der elektrischen Impedanz­tomografie, kurz EIT. Anders als bei anderen bildgebenden radiologischen Verfahren entstehen dabei keine unerwünschten Nebenwirkungen.

Hohe Anforderungen an die Sensorelektronik

Das Tor zur Lunge besteht aus zwei Komponenten. Der SensorBelt, ein Gurt, enthält die Messelektroden mit den Mikrochips. Die Steuerelektronik hingegen liegt im SensorBeltConnector. Aus hygienischen Gründen wird der Gurt nach einmaligem Tragen entsorgt – Kosteneffizienz ist daher ein wichtiger Faktor. Dank günstigen Mikrochips im Gurt sind die Kosten im Vergleich zu einer konventionellen Schaltung um den Faktor 100 tiefer.

Die Anforderungen an die Sensorelektronik sind hoch: Der Körper schwächt die sehr kleinen Messströme zusätzlich ab. Die Sensorelektronik muss daher sehr nahe bei den Elektroden liegen, um die Signalabschwächungen möglichst gering und die Genauigkeit möglichst hoch zu halten. Da die Signale hochfrequent sind und in analoger Form über lange Leitungen zur Steuerung übertragen werden, erschweren physikalische Faktoren wie Leitungskapazitäten die Übertragung. Die Steuerelektronik liegt im SensorBeltConnector. Sie verstärkt die gemessenen Signale und digitalisiert sie für die weitere Verarbeitung.

Winziger CMOS-Mikrochip

Der Patient bemerkt die laufende Messung nicht. Er trägt lediglich den textilen Brustgurt. Dessen 32 aktive Elektroden messen den elektrischen Widerstand des Körpers mittels sehr schwacher Wechselströme. Ein raffiniertes Messverfahren speist jeweils an zwei Elektroden Strom ein und misst dann an allen übrigen Elektroden die resultierenden Spannungen. Im Rotationsverfahren speist das System immer andere Elektroden – daraus resultieren nach einer Rotation 928 Messungen.

Das IMES entwickelte dafür eigens einen 0,3-µm-CMOS-Mikrochip. Auf dem nur 1,65 mm² grossen Mixed­Signal­Chip ist die spezialisierte Logik enthalten, um die Messung aller 32 Hautelektroden zu steuern, und die gemessenen Signale mit rauscharmen Verstärkern für die Übertragung aufzubereiten.

Messdaten und Modell kombinieren

Vom Gurt gelangt das Signal in die Steuerelek-tronik. Diese digitalisiert die Werte und errechnet daraus mittels spezifischer Algorithmen eine 2D-Abbildung des Brustkorbquerschnitts. Für die Datenaufbereitung werden die Messdaten auf eine Referenz bezogen und in ein Bild umgewandelt. Das System speichert jede Referenzmessung zu Beginn jedes Atemzuges neu. Die zuverlässige Bestimmung der Atemzugsphasen war eine weitere knifflige Aufgabe, die es mit technischen Mitteln zu lösen galt.

Die differenziellen Messdaten multipliziert die Elektronik anschliessend mit einer Rekonstruktionsmatrix, um eine 2D-Abbildung des Thoraxquerschnitts zu erhalten. Die Rekon-struktionsmatrix berechnet sich mit einem von Swisstom entwickelten Modell anhand von Patientendaten wie Grösse, Gewicht oder Geschlecht.

Weder überdehnen noch kollabieren

Das gegenwärtige System generiert maximal 50 Bilder pro Sekunde. Damit diese Bildfrequenz auf einem eingebetteten System wie der Steuerungselektronik möglich ist, muss man die Berechnungskomplexität reduzieren. Die Medizin geht davon aus, dass die Lunge entlang des Erdanziehungsvektors kollabiert, vergleichbar mit einem Schwamm, bei dem sich das Wasser im unteren Teil sammelt, während der obere Teil bereits trocken ist.

Bei der Lunge nimmt man an, dass sich die überdehnten Bereiche im oberen Teil befinden, und die kollabierten unten. Damit lässt sich die Gesamtberechnung mithilfe der dynamischen Programmierung in mehrere identische Teilrechnungen zerlegen.

Einfache Bedienung für Pflegepersonal

Ein weiterer Algorithmus interpretiert die Daten und vereinfacht sie, um verständliche Daten zu liefern. Die Vereinfachung liefert fünf physiologische Zustände der Lunge: statisch respektive dynamisch kollabiert, gesund oder statisch respektive dynamisch überdehnt. Dynamisch bedeutet einen Wechsel zwischen zwei Zuständen innerhalb eines Atemzyklus.

Dank der Vereinfachung kann das Pflegepersonal ein Beatmungsgerät optimal auf die Patienten einstellen – ohne Hilfe von Spezialisten. Im Unterschied zu tomografischen Bildgebungsverfahren kann dieses System Patienten bettseitig über mehrere Tage kontinuierlich überwachen – strahlungsfrei.

Kurze Amortisationszeit

Swisstom geht davon aus, dass sich die Investition in dieses Gerät in weniger als einem Jahr amortisiert. Durch die kontinuierliche Überwachung lassen sich Schäden durch die künstliche Beatmung vermindern, und die Beatmungsdauer verkürzen. Das Projekt wurde durch Die Kommission für Technologie und Innovation, KTl, des Bundes mitfinanziert, abgeschlossen ist es seit Frühling 2014. Swisstom lieferte bereits die ersten BB2-EIT-Realtime-Monitoring-Systeme an Forschungseinrichtungen aus. Sie öffnen erstmals in Echtzeit ein Fenster in die menschliche Lunge und können damit künftig Tausenden Menschen jährlich das Leben retten.

Infoservice


HSR Hochschule für Technik Rapperswil
IMES, Institut für Mikroelektronik und
Embedded Systems
Oberseestrasse 10, 8640 Rapperswil
Tel. 055 222 45 84
imes@hsr.ch, www.imes.hsr.ch