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«Wir müssen die Nadel im Heuhaufen finden»

Die zunehmende Digitalisierung unserer Welt stellt historisch gewachsene Prozesse in Frage und verändert unser Leben und Geschäftsmodelle. Big Data, die Daten, müssen zu Smart Data, dem Wissen, werden, um konkrete Handlungsempfehlungen und Aktivitäten ableiten zu können. Nur mit Smart Data lässt sich Mehrwert schaffen. Der Mathematiker Siegfried Gerlach über die Chancen und Risiken dieser Entwicklung.

 

Mit Honigtöpfen locken wir Hacker an

Sie sind von Hause aus Mathematiker, ein Freund der Zahlen. Da müssten Sie sich doch über die riesigen Datenmengen freuen, die unsere Maschinen und wir Menschen, Tag für Tag produzieren. Liege ich da richtig, oder täusche ich mich?

Siegfried Gerlach: Sie haben recht, Zahlen liegen mir sehr. Die Interpretation von Daten und Zahlen ist je nach Situation nicht ganz leicht, genau das macht mir Spass. Aber um ein Unternehmen wie die Siemens Schweiz AG zu führen, braucht es schon mehr als mathematisches Geschick. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: der Datenberg, den Wirtschaft und Gesellschaft tagtäglich produziert, birgt riesige Schätze. Wie man Zugang dazu kriegt, ist aber alles andere als trivial. Wir müssen die berühmte Nadel im Heuhaufen finden. Das blosse Datensammeln ist eigentlich ein Kinderspiel, aber die richtigen Schlüsse zu ziehen und vor allem ein lohnenswertes Geschäftsmodell daraus zu entwickeln, ist hohe Kunst.

Die heutige Situation ähnelt dem Zeitalter der Goldgräber – wie finde ich die Nuggets – damals war es kostbares Gold heute die spielentscheidenden Daten, die dem Finder einen Wettbewerbsvorteil verschaffen?

Gerlach: Das sehe ich auch so. Allerdings gehört beim Heben des Datenschatzes mehr dazu als das blosse Finden. Wenn Sie Goldgräber sind, wollen Sie möglichst viel des kostbaren Metalls sammeln. Wenn es aber um Daten geht, ist nicht die Masse (Big Data), sondern der Inhalt (Smart Data) das entscheidende Kriterium. In unserem Geschäft ist das Alleinstellungsmerkmal von Siemens, dass wir – basierend auf unserem Hardware-Know-how, gebündelt mit unserem Domänen-Know-how und dem erwähnten Analyse-Know-how – in der Lage sind, Leistungs- und Qualitätssteigerungen sowie Energie- und Kostenreduktionen zu realisieren.

Welche Anstrengungen bedeutet es für Ihr Unternehmen, die berühmte Nadel im Heuhaufen zu finden?

Gerlach: Das Thema «Big Data» hat ausserordentlich viele Aspekte. Zuerst einmal geht es darum, die richtigen Daten überhaupt erkennen und speichern zu können. Dazu braucht es intelligente Maschinen und Sensoren, welche die höchsten Qualitätsansprüche erfüllen. Siemens ist in diesem Bereich führend und ein grosser Teil unserer Forschungs- und Entwicklungsgelder wird in neue Produkte, Lösungen und Anlagen investiert. Weitere wichtige Punkte sind die lukrativsten Geschäftsideen und dazu passende Umsetzungskonzepte im Umfeld von Big Data zu finden. Hier ist u.a. wirtschaftliche und vertriebliche Kreativität gefragt aber natürlich auch IT-Wissen. Von den fast 29 000 Forschern und Entwicklern, die Siemens weltweit hat, sind etwa 17 500 Software-Ingenieure. Mehr als die Hälfte des diesjährigen Forschungsbudgets von 4,5 Milliarden Euro fliesst in Software. Ein wesentlicher Teil der Entwicklung dreht sich um Algorithmen, die die Datenberge abtragen und die Zahlenschätze freilegen können. Und daraus muss dann ein Produkt entwickelt werden, das unseren Kunden einen Mehrwert bringt und – sehr wichtig – das sie auch kaufen.

Sie sagen, aus Big Data, also den Datenbergen, muss Smart Data, also Wissen, entstehen. Was erwarten Sie von diesen Smart Data oder anders gefragt, auf welche Fragen sollen Smart Data Antworten geben?

Gerlach: Im Idealfall können mit Smart Data intelligente Prognosen für die Zukunft gemacht werden. Wenn beispielsweise ein Turbine auf Hochtouren läuft und zuverlässig Energie produziert, wird ein Unternehmer die Maschine kaum abstellen, sondern erst dann ausser Betrieb nehmen, wenn sie defekt ist. Das kostet viel Geld, weil er die ganze Anlage abstellen, den Fehler suchen und teure Reparaturkosten berappen muss – nicht zu sprechen vom Produktionsausfall. Wenn aber die Sensoren an den Turbinenschaufeln schon sehr früh melden, dass sich die Temperaturen leicht verändern oder die Drehzahl minime aber ungewöhnliche Schwankungen aufweist, kann man eingreifen, bevor grosser Schaden entsteht. Ein anderes Beispiel aus der Gebäudetechnik sind die sogenannten prädiktiven Systeme. Dank diesen weiss ein Gebäude, wie sich das Wetter, die Sonneneinstrahlung und die Raumbelegung am nächsten Tag präsentiert. Entsprechend reagieren die Heiz- und Kühlsysteme, senken die Raumtemperatur in den betreffenden Sitzungszimmern in der Nacht nicht zu stark ab, und müssen am nächsten Morgen entsprechend nicht mit voller Leistung arbeiten.

Wie geht der Siemens-Konzern heute mit der Situation von Big Data konkret um, welche Massnahmen haben Sie bereits ergriffen?

Gerlach: Siemens gibt es seit bald 170 Jahren. Wir sind nicht zuletzt darum über so lange Zeit erfolgreich, weil wir Herausforderungen, die scheinbar in ferner Zukunft liegen, rechtzeitig angehen. Das bedingt manchmal sehr harte und schmerzhafte Eingriffe – wie etwa beim Telekommunikationsgeschäft, das sich ab der Jahrtausendwende für uns nicht mehr rentabel führen liess und von dem sich Siemens getrennt hat. Big Data und der verstärkte Trend zur Digitalisierung kommt für uns nicht überraschend, und wir sind diesbezüglich sehr gut aufgestellt. Darüber hinaus haben wir eine neue Division gegründet. Sie heisst Digital Factory und bündelt das Know-how, das es braucht, um die Fertigung der Zukunft und die digitalen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Den Herstellern steht bereits heute eine umfassende Software Suite zur Verfügung. Der wichtigste Aspekt hier ist, dass wir fast alles simulieren können, bevor wir wirklich «Hand anlegen». Wir können virtuelle Modelle kreieren, Prototypen günstig herstellen und Varianten vergleichen. Dies bringt gewaltige Zeiteinsparungen und somit Wettbewerbsvorteile mit sich.

Zeigen sich bereits erste Erfolge, die diese Anstrengungen – es sind wohl primär mathematische, hoch komplexe Algorithmen – rechtfertigen?

Gerlach: Der Umgang mit Big Data und der Digitalisierung ist mehr als das Abarbeiten von Zahlen und die Entwicklung von Algorithmen. Es ist sicherlich ein grosses Plus, dass Siemens ein riesiges IT-Know-how in allen Divisionen hat. Hier brauchen wir den Vergleich mit Google oder Microsoft nicht zu scheuen. Aber den grössten Vorteil hat ein Unternehmen dann, wenn es das Geschäft und die Bedürfnisse der Kunden versteht. Wir sind seit über 120 Jahren in der Schweiz aktiv, haben mehr als 5500 Mitarbeitende und sind sehr nahe an unseren Kunden. Rund 1000 Servicetechniker kümmern sich um die verschiedensten Anlagen. Das bringt entscheidende Wettbewerbsvorteile, nämlich das sogenannte Domänen-Know-how. Das heisst, wir bauen und betreuen Hightech-Produkte wie Turbinen, Züge, Bahnleit- und Gebäudeautomationssysteme, Computertomografen oder ganze Industrieanlagen. Wir wissen also ganz genau, welche Daten hier produziert werden, bei welchen es sich lohnt sie zu sammeln und welche neuen Dienstleistungen oder Produkte man daraus kreieren kann. Einige Erfolge dieser Anstrengungen sind unübersehbar: Das Mars-Mobil fährt über den roten Planeten, die Firma Stöckli ist in der Lage, ihren Spitzenfahrern die perfekten Ski zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen und das Red-Bull-Team konnte mehrmals die Formel-1-Weltmeiterschaft für sich entscheiden.

Wie greifen Smart Data in unsere Geschäftsmodelle ein und in welchen Branchen?

Gerlach: Die zunehmende Digitalisierung und mit ihr der Umgang mit Smart Data betrifft ausnahmslos jede Branche – die eine früher, die andere später, vielleicht aber umso stärker. Das Internet der Dinge und die Möglichkeiten der immer schnelleren Datenübertragung über alle Grenzen hinweg werden völlig neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Für Siemens, aber auch für die Schweiz, ist das eine grosse Chance.

Was sagen Sie ob dieser Entwicklung zum Thema Datensicherheit?

Gerlach: Das ist ein extrem wichtiges und für Siemens absolut zentrales Thema. Früher schützten Werkstore, Zäune und Alarmanlagen die Fabriken. Die braucht es zwar immer noch, aber zusätzlich gilt es heute, schneller zu sein als die Hacker und Sicherheitslücken aufzudecken. Die Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers (PWC) prognostiziert in ihrer «Global State of Information Security Survey» von 2015 mehr als 42 Millionen Angriffe auf Unternehmen weltweit. Im Jahr 2014 gab es gegenüber 2013 global 48 Prozent mehr Cyberangriffe. Wir waren auch schon Ziel von solchen Attacken und sind entsprechend sensibilisiert. In unserer zentralen Forschungsabteilung Corporate Technology, die übrigens mehr als 7000 Fachleute umfasst, gibt es ein grosses IT-Security-Team. Es entwickelt ausgeklügelte Lösungen zum Schutz vor Cyber-Kriminalität und testet diese auf Herz und Nieren – unter anderem mit einem eigenen Spezialisten-Team. Diese hauseigenen Hacker suchen sich gezielt Schwachstellen in der Standardsoftware für ihre Angriffe aus. Um zu verstehen wie Hacker vorgehen, werden sogenannte «Honeypots» aufgestellt. Diese locken Hacker gezielt dahin, wo Schwachstellen im IT-System vermutet werden. Dabei ist dieser «Honigtopf» natürlich nicht im richtigen IT-System integriert, sondern er simuliert eine Software, ein Netzwerk oder einen Server. Wenn wir die Vorgehensweise der Hacker genau kennen, können wir unsere Bedrohungsabwehr für unsere Lösungen verbessern.

Sie haben einen Wunsch frei, wie lautet er?

Gerlach: Ich wünsche mir, dass die Schweiz, die Politik und die hier ansässigen Firmen «Big Data und Digitalisierung» weniger als Bedrohung und viel mehr als grosse Chance sehen. 

Smart Data bringen Wettbewerbsvorteile

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